Wo bleiben die Visionäre, die unsere Industrie nachhaltig verändern?

Große Veränderungen kommen nicht von den etablierten Playern. In keiner Industrie. Auch nicht in der Modebranche. Das mag unbequem klingen, ist aber eine Tatsache.
er seit Jahrzehnten den Markt dominiert und damit satt verdient, hat wenig Anreiz, radikal neue Wege zu gehen. Bestehende Geschäftsmodelle sind darauf ausgelegt, Konsum zu maximieren, Produktionskosten zu minimieren und Gewinne langfristig zu sichern. Das System funktioniert für die marktbestimmenden Großen genauso, wie es ist, und genau deswegen bleibt es so. Es regiert die Marge, sehr oft auf Kosten von Umwelt, Ressourcen und fairen Arbeitsbedingungen.

Es bleibt alles wie es ist.

Innovation bedeutet nicht nur ein neues Produkt, sondern ein komplettes Umdenken des Systems. Innovation erfordert den Mut, etablierte Strukturen zu hinterfragen, diese zu durchbrechen und dabei Risiken einzugehen. Doch wer mitten im System sitzt und von seiner Stabilität profitiert, wird diesen Schritt nicht wagen.
Deshalb kommen wahre Umbrüche meist von jenen, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen haben, von Quereinsteigern, von kleineren, agilen Akteuren mit frischem Blick und unbegrenzter Neugier.

Diese Dynamik ist kein Phänomen der Modeindustrie allein, sie findet sich in nahezu jeder Branche:

Nokia war einst der unangefochtene Herrscher der Mobiltelefone, Weltmarktführer, bis Apple kam, ein kompletter Quereinsteiger, der den Markt radikal neu erfand. Ein Telefon ohne Tasten, das in seiner Funktionalität die Vorstellungskraft jedes einzelnen völlig übertraf. Ein Telefon, das das Leben in dieser Welt radikal veränderte.

In der Automobilbranche waren es nicht die Weltmarktführer Toyota oder die deutsche Volkswagengruppe, auch nicht die französisch-italienische PSA-Gruppe, die den Durchbruch in der Elektromobilität brachten: Es war Tesla, ein Start-up ohne jede Erfahrung im Autobau, aber mit einer klaren Vision.

In der Reisebranche veränderte Booking.com die Spielregeln grundlegend und für immer, ohne ein einziges eigenes Hotel oder Restaurant zu besitzen. Es war nicht Mariott, nicht die Hilton Gruppe und auch nicht die Intercontinental Group.

Die echten Veränderungen kommen von motivierten Quereinsteigern, mutigen Unternehmerinnen und Unternehmern, die bereit sind, Risiken einzugehen, konventionelle Wege zu verlassen und völlig neue Wege zu gehen.

Worauf wartet die Modeindustrie?

Die etablierte Modebranche steht aktuell in einer tiefen Krise. Namhafte, früher marktbeherrschende Labels schlittern in die Pleite. Selbst das Luxussegment kann die gewohnten Wachstumszahlen derzeit nicht darstellen. Statt innovativer und nachhaltiger Entwicklungen dominieren negative Vorbilder wie Shein und Temu den Markt. Marken, die billige Kleidung zu Dumpingpreisen anbieten und damit Umwelt und Produktionsbedingungen weiter belasten. Diese kurzfristigen Trends sind jedoch nicht die Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft.

Die echte Zukunft der Mode liegt bei jenen, die mutig neue Wege gehen und innovative Konzepte verfolgen:

Es sind viel zu wenige mutige Initiativeren, die versuchen die Märkte aufzumischen. Die meisten sind stark von der Idee einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft getrieben. Es sind etwa Reparaturdienstleistungen wie Repair Rebels oder der Taschendoktor, die Gebrauchtkleidung retten und aufwerten. Es sind vereinzelt auftretende Modelle der Kleidungsmiete, die teure und selten genutzte Stücke einem größeren Kreis zugänglich machen. Und es sind liebevoll inszenierte Second-Hand-Initiativen, die Modewerte neu definieren wollen, intelligente Recyclingsysteme, die Ressourcen schonen und die Kreislaufwirtschaft voranbringen wollen.

Der große Wurf fehlt.

Das Hauptproblem ist allerdings, dass keines dieser Konzepte groß genug und mutig genug gedacht ist, um eine echte Veränderung der Industrie herbeizuführen. Das vor allem, weil sämtliche Newcomer letztlich immer wieder wirtschaftlich überleben müssen. Und da ist der Wettbewerb gegen die billigsten und brutalsten Unternehmen dieser Welt einfach zu massiv.

Die wirtschaftlichen Systeme sind letztlich alle auf dem System Wachstum aufgebaut. Und dieses System wird in US$ oder €, oder auch in RMB gemessen. Einsparungen im Ressourcenverbrauch, im Co2 Verbrauch oder Wasserverbrauch, Reduktion von giftiger Chemie sind allesamt „nice to haves“, aber letztlich wirtschaftlich unwirksam. Sämtliche Umweltgesetzte sind obwohl kompliziert und aufwendig in der Umsetzung bis dato zahnlos. Letztlich reguliert sich der Europäische Markt zu Tode, während er gleichzeitig qualitativ letztklassige Billigware ohne Kontrolle in denselben Markt lässt. An der Supermarktkasse entscheidet aber der Preis – sonst nichts.

Die Hoffnung nicht verlieren.

Jetzt warten wir also auf den „Tesla“ der Modebranche, der die Branche komplett umkrempelt, auf den Kopft stellt. Im ersten Moment komplett überfordert dann aber einsehen lässt, dass man viel zu lange an den bisher perfekt funktionierenden Strukturen festgehalten hat. Dieser Komet, der alles verändert und die gesamte Branche vor sich hintreibt, ist bis jetzt absolut nicht in Sicht. Kein Schimmern am Horizont. Aber eines ist sicher: er wird kommen. Und dann werden alle andere gefordert sein.

Der Modemarkt bleibt enorm, die Chance ist definitiv vorhanden, ihn nicht nur fortzuführen, sondern neu zu erfinden. Nicht mit veralteten Denk- und Handelsweisen, sondern mit Kreativität, Nachhaltigkeit und disruptiven Innovationen.

Die großen Player werden diese Revolution kaum anführen; dafür sind sie zu sehr im etablierten System verhaftet. Aber es gibt Menschen und Unternehmen, die den Mut haben, alte Strukturen hinter sich zu lassen und die Branche auf eine bessere, faire und zukunftsfähige Spur zu führen.

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